Der Samtbanddieb im Hagenbroich

Um das Jahr 1840 wohnte in der Süchtelner Honschaft Hagenbroich ein betagtes, kinderloses Ehepaar namens Gerhardts, das nur ein „Getau“ ( Handwebstuhl – auch nur „Tau“ genannt ) sein eigen nannte. Wegen ihrer Gebrechlichkeit fiel den alten Leutchen die Arbeit am Webstuhl doppelt schwer und sie waren jedes Mal herzlich froh, wenn ein Stück endlich fertig geworden war, von dessen Erlös sie für einige Zeit ihren bescheidenen Lebensunterhalt bestreiten konnten.

 So war denn sehr spät an einem Samstagabend wieder einmal ein Stück so weit gediehen, daß es am Montag abgeliefert werden konnte. Als die beiden Alten sich zur Ruhe begeben wollten, sagte die Frau zu ihrem Manne: „Was meinst du Johann, sollen wir das Stück nicht mit in die Schlafkammer nehmen; denn seit ein paar Wochen sind sie mit dem Stehlen so recht im Gange.“ – „Kein Christ, der am Sonntag stiehlt“, brummte der Angeredete in seinen eisgrauen Bart hinein, wobei er die Stubentür wuchtig hinter sich zuwarf. Durch den Anprall sprang sie jedoch wieder aus dem Verschluß und blieb eine Handbreit offen stehen. Damals hatten auf dem Lande die Innentüren noch keine Schlösser wie die Außentüren, sondern einen „Welver“. Das war ein einfacher Holzriegel auf der Zimmerseite, der beim Zumachen der Türe in ein schlitzförmiges Verschlußstück hinein fiel. Wollte man in die Stube eintreten, zog man außen an einer Kordel, die durch ein kleines Loch glitt, das etwa eine Spanne oberhalb des Welvers durch die Tür gebohrt war. Wenn das Verschlußstück nach jahrelangem Gebrauch an den Kanten stark abgenutzt war, konnte der Riegel gar zu leicht beim heftigen Zuschlagen der Türe wieder aus dem Schlitz herausspringen, wie es an dem fraglichen Abend beim alten Gerhardts der Fall war.

 Das Ehepaar hatte bereits den ersten Schlaf hinter sich, als die Frau im Halbschlummer ein knarrendes Geräusch vernahm, das nur vom Getau in der unten gelegenen Stube herrühren konnte. Hastig weckte sie ihren Mann und flüsterte ihm ängstlich zu: „Der Brustbaum kracht; es ist jemand am Getau.“ – „Das ist der Wind“, entgegnete der alte Gerhardts, „der rappelt an unseren Blenden. Kein Christ, der am Sonntag stiehlt. Beruhige dich und schlafe weiter!“

 Das beklemmende Gefühl, einen Dieb im Haus zu haben, hielt jedoch die Frau vollauf munter und angestrengt horchte sie, ob das Geräusch nochmals zu hören sein werde. Nach etlichen Augenblicken klang es tatsächlich wieder, wesentlich deutlicher als zuvor. Kein Zweifel, es machte sich irgendeiner am Getau zu schaffen! Das eigentümliche Knarren des Brustbaumes, das ihr seit fast fünfzig Jahren nur allzugut vertraut war, täuschte sie nicht. „Johann, Johann, raunte sie in höchster Angst ihrem Manne zu, es ist doch jemand unten. Bei Gottes heiliger Dreifaltigkeit, unser Samtband, unser Samtband!“  Nun wurde auch der Ehemann hellwach; denn es dünkte ihm ebenfalls, ein Geräusch vom Webstuhl her vernommen zu haben. Leise stand er auf und legte sich auf den Boden, das Ohr an die Stubendielen gepresst. Nach einer Weile erhob er sich, ging auf das Weihwasserbecken am Türpfosten zu und tauchte die Fingerspitzen hinein. Indem er ein großes Kreuz schlug, murmelte er vor sich hin: „Der Herr sei unsern armen Seelen gnädig. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“

 Nach diesen feierlichen Worten öffnete er lautlos die nur angelehnte Kammertür und stieg behutsam die Treppe hinab. Auf den Fliesen der „Spöel“ ( Spüle ), die gleichzeitig als Küche und Hausgang diente, lag ein schwacher Lichstreifen, der aus der Webstube kam. Vorsichtig näherte sich der alte Gerhardts dem Türspalt und lugte in die Stube hinein. Wahrhaftig, auf dem platten Lehmboden am Getau hockte ein Mensch, der seine Füße in die „Schemelskull“ gestemmt hatte und eifrig die fertige Ware in seinen Schoß zog. Dabei ertönte von Zeit zu Zeit das verdächtige Geknarre des Brustbaumes, das aber den Dieb keineswegs zu stören schien. Das Gerhardts- häuschen lag etwas abseits von den übrigen und was wollten die Alten machen, wenn sie ihn überraschten? Er war schon mit schwierigeren Dingen zurecht gekommen und schließlich hatte er ein großes dolchartiges Messer griffbereit in der Tasche.

 Vom Türspalt aus waren nur Brust und Beine des Einbrechers sichtbar, während Kopf und Leib durch „Kamm“ und „Ried“ wie auch durch die Balken des Webstuhls verdeckt waren. Gerhardts schaute eine Zeitlang unentschlossen dem Dieb zu, der ihm als der Stärkere in dreister Weise Ware und Verdienst rauben wollte. Das, was der verwegene Kerl im Begriff war zu stehlen, war Millimeter um Millimeter durch seine gichtigen Hände geglitten, darauf hatten seine matten Augen an vielen Arbeitstagen geruht und das müde gewordene Gehirn war angestrengt tätig gewesen, um keine Webefehler einschleichen zu lassen, die unerbittlich den kargen Lohn gekürzt hätten. In dieses Stück war die ganze Hinfälligkeit eines verlöschenden Erdenlebens hineingewebt und nun ...!

 Wie aber konnte er den starken Burschen dort an seinem Tun hindern? Auf einmal fiel sein Blick auf das alte Steinschlossgewehr, das unweit der Türe an der Wand hing. Seit Jahren war daraus nicht mehr geschossen worden und Gerhardts wusste nicht, ob es überhaupt noch geladen war. „Kein Christ, der am Sonntag stiehlt“, ging es wiederum durch seinen Kopf und unwillkürlich tastete die zitternde Hand zur Waffe und hob sie vom Haken. Leise schob er seinen Oberkörper vor und legte auf die Brust des Einbrechers an. Dieser musste plötzlich gespürt haben, daß er beobachtet wurde und in Gefahr stand; denn er reckte sich empor und schaute über den Kamm zur Türe hin. Für eines Herzschlages Länge senkten sich die Blicke der beiden Augenpaare ineinander. Da krachte auch schon der Schuß und der Knall donnerte wie ein Kanonenschlag durch das stille Haus. Der Dieb stieß einen kurzen Schrei aus, griff
an seine Brust und sank ächzend zur Seite.

 Der alte Gerhardts warf das Gewehr auf die Steinfliesen, rannte, wie von Unholden gehetzt, nach oben und legte sich schwer stöhnend an die Seite seiner Frau, die schreckgelähmt kein Wort hervorzubringen vermochte. In der Gerichtsverhandlung redete der Alte nur noch unzusammenhängendes Zeug, daraus niemand klug werden konnte. Er wurde freigesprochen. Der Getötete war das Haupt einer Diebesbande gewesen, die schon wiederholt Hausweber um ihren sauer verdienten Arbeitslohn gebracht hatte. Man war ihr zwar seit langem auf der Spur, doch entging sie immer wieder dem Zugriff der Behörden, bis das Schicksal ihren Anführer ereilte.

Hier erzählt man sich, dem alten Johann Gerhardts sei es seit jener Nacht nicht mehr richtig im Kopfe gewesen. Er selbst webte nicht mehr und seine Frau musste, so gut es ging, allein am Getau den Lebensunterhalt verdienen. Jedoch fast täglich, ob sommers oder winters, sah man den Alten den halbstündigen Weg nach Süchteln zum Kirchhof gehen, wo an der Mauer ein grasbewachsener, namenloser Hügel sich wölbte. Hier blieb er stehen, zog einen dickperligen Rosenkranz aus der Tasche und nach jedem Gesetz konnte man ihn lispeln hören: „Kein Christ, der am Sonntag stiehlt. Kein Christ, der einen Menschen tötet. Der Herr sei uns beiden ein gnädiger Richter!“

Ein alter Süchtelner Hausweber
( Um 1870 klapperten in Süchteln noch 1.300 Handwebstühle )

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