Der große kleine Dirk Hullin

Wer war eigentlich Dirk Hullin? Diese Frage wird sich jetzt wohl so mancher stellen, denn kaum einer hier kennt den Namen Hullin, aber wirklich jeder im Ort kannte den kleinen Dirk in seinem Rollstuhl. Und so klein er auch war, so war er doch vielleicht einer der Größten, der hier gelebt hat.

Dirk litt seit seiner Geburt am 23.Januar 1966 an der schwersten Verlaufsform der Osteogenesis imperfecta, einer Krankheit, die im Volksmund ‘Glasknochen’ genannt wird. Diese Krankheit und der damit verbundene Kleinwuchs ( in seinem Personalausweis stand zwar 1,20m Körpergröße aber tatsächlich war Dirk sitzend nicht größer als 60cm ) zwangen ihn Zeit seines Lebens in einen Rollstuhl. Zur Behandlung kam er im August 1968 in die orthopädische Kinderklinik in Süchteln, die ihm wohl oder übel für lange Zeit zum Zuhause werden sollte. Dort verbrachte er seine Kindheit und seine Jugendjahre und dort wurde er auch in die hauseigene Schule eingeschult, die er 8 Jahre lang besuchte. Er nahm wie die anderen Kinder an den Ferien- und Freizeitangeboten teil, fuhr mit seinem elektrischen Rollstuhl, den er zum Glück bereits recht früh bekam, in die Spiel- und Basteltherapie und begann sogar einmal eine Ausbildung ( Bürotätigkeit ), die ihm aber nicht wirklich Spaß machte und die er deshalb auch schnell wieder abbrach. Seine langjährige Bezugsperson wurde die gute Schwester Irmgarda, die für ihn so etwas wie eine Ersatzmutter wurde.

Wie sehr Dirk damals schon an seiner Heimat Süchteln hing, zeigt, daß er einmal
nach einer Verlegungen nach Volmerstein dort ausbüxte und solange sogar über die Autobahn rollte, bis die Batterien seines Rollstuhls leer waren. Der Pförtner der hiesigen Orthopädie war nicht wenig verwundert, als ein 30-Tonner LKW vor der Klinik hielt, der Fahrer ausstieg, die Heckklappe öffnete und Dirk zum Vorschein kam, der per Anhalter nach Hause gekommen war. In seiner Jugend in der Orthopädie entwickelte Dirk auch seinen rebellischen Charakter. Während seiner wilden Jahre ließ er sich die Haare lang wachsen, drehte die an den Rollstuhl montierten Lautsprecher auf und störte sich kein bißchen daran, daß die Leute, die ihm begegneten, keine Hard-Rock-Musik mochten. Wer sich ihm in den Weg stellte, dem fuhr er auch schon ’mal in die Hacken und wer dumm kuckte, der bekam einen Spruch verpasst.

Ich traf Dirk das erste Mal, als ich Ende der 1970er Jahre einen Freund in der Orthopädie besuchen wollte. Auf dem Stationsflur herrschte helle Aufregung und ich sah eine Menschentraube aus Schwestern und Mechanikern, die beschwichtigend auf einen im Aufzug Steckengebliebenen einzureden versuchten. Dieser Eingeschlossene aber schimpfte und fluchte wie ein Rohrspatz, daß es durch das ganze Krankenhaus schallte und viele herbeieilten um zu sehen, wer da in so große Not geraten war. Als sich nach endlosen Minuten der Aufzug wieder in Bewegung setzte und endlich die Türen aufgingen, staunte ich nicht schlecht, wie der kleine Dirk herausgerollt kam und immer noch schimpfend an den Umstehenden vorbeifuhr, um hinter der nächsten Ecke zu verschwinden.

Dirk war zu dieser Zeit in Süchteln durch seine Ausflüge zur Eisdiele oder zu Festlichkeiten schon sehr bekannt, aber die wohl wichtigste Bekanntschaft in seinem Leben machte er 1983, als Bernhard seine Ausbildung in der Orthopädischen Klinik begann. In Bernhard hatte Dirk einen echten Freund gefunden, wie es wohl keinen zweiten gibt. Nur ein einziger Mensch bedeutete ihm vielleicht noch mehr, seine große Liebe Steffi. Diese beiden waren wohl die wichtigsten Menschen in seinem Leben. Nicht das Dirk sonst keine Freunde gehabt hätte, im Gegenteil, aber viele davon kamen und gingen und manche blieben letztlich, wie so oft im Leben, nur Bekanntschaften. Wie wichtig dagegen Bernhard und Steffi in Dirks Leben waren, kann man unter anderem daran ersehen, daß Dirk 1988 Trauzeuge bei Bernhards Hochzeit mit Judith war und 1992 Patenonkel von deren Sohn Matthias wurde, worauf er übrigens besonders stolz war. So oft er bei Bernhard und Judith war, so oft hat er mit den Kindern gespielt und ihnen stundenlang vorgelesen. Dirk liebte Kinder, er liebte das Leben und er liebte schöne Frauen. Meist traf man ihn mit einer hübschen Frau an seiner Seite und Dirk kannte die Vornamen aller Mädchen der Stadt. Steffi aber war die Freundin, der er seine ganze Liebe schenkte und oft in all den Jahren sah man die beiden Händchenhaltend in der Stadt unterwegs. Und mancher Kerl, der ihnen begegnete, hat verstohlen einen neidischen Blick zu Dirk getan. In Steffi hatte Dirk nicht nur seine beste Freundin, sondern auch den Menschen gefunden, für stundenlange Gespräche über Gott und die Welt und eigene Gefühle und Gedanken.

1986 fand Dirk einen Weg in Richtung Selbstständigkeit und zog in seine eigene Wohnung. Dieser Schritt zu einer neuen Unabhängigkeit war etwas, was ihm kaum jemand zugetraut hätte und es gab nicht wenige, die damals meinten, daß er in ein paar Wochen wieder zurück wäre in der Klinik. Er belehrte sie alle eines Besseren und bis zuletzt war er auf das Erreichte mit Recht sehr stolz. Von da an lebte Dirk sein Leben, soweit als möglich, selbstbestimmt. Er besuchte gerne Konzerte oder fuhr oft Samstags nach Gladbach zum Fußball. Man traf ihn auf Trödelmärkten und Straßenfesten in der Umgebung. Auch schaute er sich gerne die neusten Filme im Kino an und besonderes Vergnügen bereitete es ihm, Gäste zu empfangen und sie nach allen Regeln der Kunst zu bewirten. Er kochte vorzüglich und verwendete am Liebsten nur frische Zutaten. Dirk war im Winter manchmal traurig, weil er mit seinem Rollstuhl bei Schnee und Eis nur schlecht oder gar nicht voran kam, aber sobald die ersten Sonnenstrahlen den nahenden Frühling ankündigten, war er wieder unterwegs und manchmal tränten ihm die Augen von seiner schnellen Fahrt durch die kühle Luft und seine Haare wehten im Wind. Dirk war in Süchteln sehr beliebt und man traf ihn überall und an jedem Ort, aber einer seiner Lieblingsplätze war das Eiscafe am Lindenplatz. Im Sommer verbrachte er hier Stunde um Stunde und genoß die Gesellschaft der Menschen. Man sah ihn meist angeregt plaudernd, oft herzhaft lachend und immer freundlich grüßend.

Dirk hat vielen von uns durch seine herzliche Art und seine große Kämpfernatur vorgelebt, daß man sich niemals aufgeben darf und daß viele Probleme die uns oft belasten, nur gering sind im Vergleich zu dem Kreuz, daß manche andere tragen. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei seiner Erkrankung beträgt noch heute nur ungefähr 15 bis 20 Jahre. Dirk wurde 36 Jahre alt.

Er starb am 07.März 2002 - sechs Monate nach einem unglücklichen Sturz, von dem er sich nicht mehr erholte. Eine schwere Lungenentzündung nahm ihm am Ende den Atem und ließ ihn friedlich einschlafen. Seine Beerdigung, an der die wichtigsten seiner Süchtelner Freunde teilnahmen, fand 5 Tage später in seinem Geburtsort Gelsenkirchen-Rotthausen statt und in Süchteln veranstaltete man für ihn die Gedenkmessen. Wer zu Lebzeiten das Glück hatte Dirk Hullin kennenzulernen, der wird sich wohl immer gerne an ihn erinnern; allen anderen seien diese Zeilen eine Gelegenheit, vom großen Dirk zu erfahren und sich an ihm ein Beispiel zu nehmen.
Sein Lieblingstier war der Weißkopfadler und in seinen Träumen ist Dirk wohl oft
frei wie der stolze Vogel über unsere Köpfe hinweg geflogen.

Dirk im September 1993

Außer der offiziellen Todesanzeige, erschien am 13.März noch diese Traueranzeige einiger Süchtelner Freunde 

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